„Was für ein dankbares Menschenmaterial sind doch die Deutschen! Man braucht ihnen nur Hungerlöhne und eine schwache Hoffnung auf Arbeit zu geben, und schon produzieren sie von selbst eine erstaunlich große Portion an Frohsinn. … Sollte es je zu einem europäischen Massaker kommen, wird wohl nicht der Eroberungsdrang oder die Aggressivität der Deutschen daran schuld sein, sondern ihre stürmische und naive Liebe zur Uniform, die Begeisterung für das Marschieren in Reihen, sich am liebsten als Rädchen in einer leistungsfähigen Maschine zu fühlen…“ (S. 143, S. 202, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2009)
„..Zu Recht erwartet der Käufer eines Science Fiction Romanes im Verhältnis zu, sagen wir, einer Günther Grasschen Lebensgeschichte, einen gewaltigen Brainfuck, eine Show, etwas, was im besten Fall nicht nur unerwartbar ist, sondern die Frage „Wie wird es wohl weitergehen“ nahezu sinnfrei erscheinen lässt, die komplette Verwirrung, Ursachenforschung gerade noch möglich, Staunen und ein „Scheiße, darauf muss man erst mal kommen“. .“
„..The Summer Without Men“ ist keineswegs ein Roman ohne Männer. Ihre körperliche Abwesenheit schmälert ja keineswegs ihren Einfluß auf die Frauen und Mädchen, denen Mia begegnet. Während die Männer bei den jungen Mädchen ihres Poesiekurses noch nicht anwesend sind und gerade erst interessant werden, sind sie bei Mias Mutter und ihren Freundinnen oft lange verstorben oder verschwunden, und spielen doch in ihrem Einfluß auf das gelebte Leben, dessen Wendepunkte in persönlichen Gesprächen reflektiert werden, eine große Rolle…“
„..Sie sind aber nur schockierendes Mittel zum Zweck – Scott Lynch ist für ein Erstlingswerk ein unerschrockener Anhänger der Theorie, dass man für die Entwicklung der Story nicht davor zurückschrecken darf, handelnde Personen – und seien Sie noch so sympathisch und ans Herz gewachsen – sterben zu lassen..“
Auch Rezensenten, denen mit dem Buch vorm Kamin der Winter nicht so viel zu schaffen machen sollte wie spargeldünnen Langlaufzealoten, geht die kalte Dunkelheit gelegentlich gehörig auf den Keks.
Um so verwunderlicher, dass dem Verfasser des Aufmachers für die aktuelle Studio B Sendung erst justament beim Schreiben dieser Zeilen auffällt, dass alle drei besprochenen Bücher zu großen Teilen in schweißtreibenden Jahreszeiten und Gegenden spielen. Das spricht wohl deutlich für die inhaltlichen Fesselungskünste der Werke, die da wären:
The Summer Without Men von Siri Hustvedt: Irmgard Lumpini ist ob des auf billigstem Papier gedruckten Paperbacks der englischen Ausgabe von Siri Hustvedts neuem Roman „The Summer Without Men“ gerührt: die älteste Geschichte des Patriarchats (Mann verläßt Ehefrau nach 30 Jahren für eine Jüngere) wird mit Poesie, seltsamen Briefwechseln, einem pornographischen Tagebuch, Wissenschaftsgeschichtskritik, unzähligen Frauen jeder Generation und einer Vorläuferin der Stitch’n’Bitch Bewegung intim und hinreißend erzählt.
Spin von Robert Charles Wilson: Offiziell ein Science Fiction Roman und passend auch mit einer grandiosen, fantastischen Idee gesegnet – aber trotzdem viel mehr als das.
und
Die Lügen des Locke Lamora von Scott Lynch: Ein gerissener Roman über gerissene Betrüger in einer Fantasywelt irgendwo zwischen Venedig und Alchemistan
Wie jedes Jahr im Dezember wird aus „Studio B – Lobpreisung und Verriss“ das letzte beschreibende Substantiv gestrichen und ausschliesslich empfehlenswertes Lesewerk den weihnachtgeschenkpanischen Hörerinnen und Hörern an’s Herz gelegt, auf dass diese es Freund und Feind unter den Weihnachtbaumen amazonieren.
Irmgard Lumpini übernahm in diesem Jahr die Rolle der anspruchsvollen Rezensentin und Herr Falschgold empfahl dazu Gut-Triviales:
„Lag morgens lange im Bett. So endet dieser Tag.“ Eine Straße in Bremen-Walle. Almatastraße. Ein Hochhaus, darin ein Mann. Den ganzen 18. Stock hat für sich, durch einen Zufall. Ein trauriger Denker ist er, ein armer Schlucker, gepeinigt von den Mitmenschen und der elenden Umwelt. Nicht einmal sein Freund Clemens versteht ihn. Und auch die Liebe bietet keinen Ausweg. Germar Grimsen eröffnet in „Almatastr.“ ein Panaroma der Ausweglosigkeit, er bietet das Tagebuch eines Misanthropen, den Leserinnen und Lesern zum Vergnügen – denn „Almatastr.“ ist ein äußerst komisches, ein ungemein erheiterndes Buch. „Biß in Schmelzkäse. Zahnfleischbluten.“ Am 5.11. stellte Jörg Sundermeier das Buch in Dresden vor und las daraus…
Er hat seinen Gibson und seinen Stephenson gelesen, aber auch seinen Lee Child und Michael Connelly, er hört, vermuten wir mal, die Podcasts NO AGENDA und „The Giant Bombcast“ und entwickelt vor unseren Augen eine Story in und eine Vision von unserer vernetzten Gegenwart und nahen Zukunft, wie sie plausibler von noch niemandem geschrieben wurde – auch wenn William Gibson, zuletzt mit Spook Country, schon nahe dran war.
Stell Dir eine Welt vor, in der über jedermanns Kopf eine Blase mit seinem Namen steht, seine Reputation, seine selbstgewählte Aufgabe im Leben, drunter ein „Like“ Button, rechts unten eine Anzeige über den Zustand der Demokratie in der Welt und in der näheren Umgebung, eingeblendet auf derInnenseite Deiner Brille, wann immer Du sie aufhast, es Dir möglich ist, Daten zu Deiner Umgebung und den Dich umgebenden Personen und Objekten einzublenden und zu manipulieren. Klingt wie Overload, aber das klang Twitter und Facebook vor zwei Jahren auch noch. Diese Welt, wie beschrieben, hat sich Daniel Suarez ausgedacht und neben einer spannenden Handlung auch ein gehöriges Stück Gesellschaftskritik, aber auch -vision gepackt, in seine Bücher „Daemon“ und „Freedom™“. Wir stellen Sie vor.
Am 5. November war Jörg Sundermeier vom Verbrecherverlag hier in Dresden im AZ Conni und stellte „Almaterstr.“ von Germar Grimsen vor und las daraus, wir senden einen Mitschnitt.
Wir im Studio B sind, was die gerade stattfindende Frankfurter Buchmesse betrifft, ein wenig behindert. Inhaltlich sind wir im letzten Jahr der Frische, Innovation und viefaeltigen Unmiefigkeit amerikanischen Literatur soweit verfallen, dass zumindest ein Teil der Redaktion zur Zeit einfach kein deutsches Buch anfassen mag. Nicht der beste Anreiz zum Besuch der groessten Deutschen Buchmesse. Aber selbst wenn man diese als die groesste Buchmesse der Welt sieht, was sie laut buchmessenmarketinggepflegte Wikipedieintrag ist, und man die auch in diesem Jahr wieder aufkommende und anlaesslich der Amazon-Kindle Verkaufszahlen nicht alberne sondern absurde „Isch les dor ni am PC“ E-Bookdiksussion ausblenden koennte, sind wir froh dass wir nicht zu einer Verkaufsschau muessen. Wir sind hier naemlich nicht auf Arbeit. Dass uns, uebrigens Jahr fuer Jahr, dieser Weg erspart bleibt und das Studio B Publikum dennoch von einigen deutschsprachigen Fundstuecken erfaehrt, verdanken wir auch diesmal wieder dem Verband Freier Radios Oesterreich und dem von ihm kooperiertem Literadio. Literadio ist einerseits ein Archiv für Aufnahmen von AutorInnen-Lesungen, Buchpräsentationen von Verlagen, Literaturdiskussionen und Literaturveranstaltungen und bietet andererseits Live Radioprogramm von speziellen Literaturevents via Internet und in Kooperation mit besagtem Verband Freier Radios Österreich auch On Air.
In diesem Jahr war Literadio also wieder anstatt unser auf der Frankfurter Buchmesse vertreten, wo sie Autor_innengespräche führten und Lesungen und Performances eine Bühne boten. In der folgenden Stunde sind Ausschnitte von diesen Veranstaltungen zu hören.
„Seine Lebensumstände sind nicht rosig. Nicht gerade als Wunschkind in proletarische Verhältnisse geboren, beschreibt er seine ersten Kinderjahre in einem Umfeld zwischen Deutschnationalen und Republikanern, in der elektrischer Strom nur für die Beleuchtung genutzt wird und auf dem Herd Wäsche und Essen gekocht werden. Und ihm ist immer klar, dass er am unteren Ende der sozialen Leiter steht, deren Einteilung er sich widersetzt. Immerhin weiß er wie alle seine Freunde bereits mit 4 Jahren, wie die anderen Geschwister gezeugt werden und hat gelernt, dass sich das gut anfühlen soll, während seine reicheren Mitschüler, die ein eigenes Zimmer hatten, überhaupt keine Ahnung haben. „
Zur Zeit sind es knapp 40. In Afghanistan kämpfen Amerikanische Truppen jetzt im 10. Jahr. Während der Krieg in den Medien durch Zahlen und Zeiten, Feinde und Verbündete, Regionen und Gebiete dargestellt wird, leben und sterben vor Ort Menschen, sogenannte Soldaten. Was in deren Kopf vorgeht, wie ein Alltag zwischen Leben und Tod bewältigt wird und welche Auswirkungen das auf die Gesellschaft vor Ort und daheim hat, hat der Journalist Sebastian Junger ein Jahr lang beobachtet und in einem Buch mit dem alles sagenden Titel „WAR“ beschrieben. Herr Falschgold stellt es vor.
Der 2. Weltkrieg wird in Egon Neuhaus‘ Roman „Spinnewipp“ aus ungewohnter Perspektive beschrieben: von jemanden, der die erste Hälfte des Nationalsozialismus in Erziehungsheimen und die zweite Hälfte in der Wehrmacht überlebte, und auch in der Nachkriegszeit ganz unten war. Er erzählt klar, unprätentiös und manchmal derb, und ist dabei eminent komisch, aber niemals weinerlich. „Spinnewipp“ ist eine Autobiographie, die in das Lektüreprogramm jeder Schule aufgenommen werden sollte, und eines Tages als Klassiker – jedoch gelesen – in jedem Bücherschrank stehen wird.
Jack Reacher, Protagonist einer bis jetzt 14 Bände umfassenden Thriller Serie, hat seine markanteste Narbe im Libanonkrieg erhalten. Warum die Reihe trotz holzschnittartiger Zeichnung der Charaktere eine Sommerobsession rechtfertigte, erzählt Irmgard Lumpini.
Der Verbrecherverlag. Berlin wird 15. Wir feiern kräftig mit, denn, was es ohne den Verbrecherverlag nicht gäbe:
welterklärende Anthologien wie „Das Buch vom Trinken“ und „Das Buch vom Klauen“ oder Städtebücher, die Lokalpatrioten erschrecken und stets die Ist-Zustände der vorgestellten Orte beschreiben, um schnell historisch zu werden
bösartig grandiose Romane von Gisela Elsner, die bisher nur im russischen erschienen wie „Heilig Blut“ oder im Nachlass entdeckt wurden wie „Otto der Großaktionär“
die großartigen Comics von Oliver Grajewski
den mit bisher 5 veröffentlichten Büchern noch längst nicht abgeschlossenen Versuch, das Werk Gigi Margwelaschwilis vollständig zu veröffentlichen
die superbe Filitreihe, die sich mit unterschiedlichsten filmtheoretischen Ansätzen und Literatur zu Film beschäftigt
eine Werkschau von Rudolf Lorenzen
Neuauflagen von Irmtraut Morgner
einen neuen Gedichtband von Georg Kreisler…
Deshalb führten wir ein Interview mit einem der Gründer des Verlages, Herrn Sundermeier, einer Interviewsau vor dem Herrn.
In unserer alljährlichen Studio B Summer Special Edition schauen wir zurueck auf die Rezensionen aus unserem Archiv und bringen Euch nochmal die von uns selbst ernannten Highlights unter den Lobpreisungen und den Verissen und empfehlen Euch gleichzeitig folgende Sommerlektüre:
Charles Willeford: Wie wir heute sterben
Das Buch vom Trinken
Josh Bazel: Beat the Reaper
und America America von Ethan Canin
Viel Vergnügen beim nochmals hören, neue Rezensionen gibt es wieder am 12. August – und nun aber schnell zur Datscha!
„…zum anderen wird im letzten Teil des Buches an der Kritik Collins‘ an der heutigen Frauengeneration eine weitere Motivation für „When everything changed“ deutlich: Sie stört sich – zu Recht – an den noch immer weit verbreiteten Annahmen,
dass 1. heute auch für Frauen alles möglich wäre, und
dass 2. die Geschichte der vielfältigen Auseinandersetzungen häufig auf die oft kolportierte Geschichte der angeblichen BH-Verbrennung reduziert wird und die feministischen Kämpfe als die von männerhassenden, militanten Frauen denunziert werden…“
..Denn der Roman unterscheidet sich von der amerikanischen Krimidutzendware, die – nur zur Erinnerung – ihrer deutschen Entsprechung immer noch vorzuziehen ist, in wichtigen Details.
Da wäre zunächst der Autor, Scott Turow, der die Schreiberei nur im Nebenberuf betreibt, oder sagen wir genauer, die Schriftstellerei, denn als Strafverteidiger in Chicago schreibt er beruflich, narativ und klar für ein deutlich kritischeres Publikum als den bräsigen Urlauber am Strand. Von seinen Stories, gewoben aus Aussagen, Beweisen und Indizien hängt normalerweise ab, ob 12 Geschworene seinen Mandanten in eine Zelle schicken oder zurück in die Freiheit..